Einer landeskirchlichen Gemeinschaft verdanke ich es, dass ich im Alter von 16 Jahren zum ersten Mal entschiedene Christen kennen lernen durfte. Mit bis zu 40 Jugendlichen trafen wir uns jede Woche zu einem Bibelkreis. Es wurden aussagekräftige Jugendlieder gesungen, in Kleingruppen gebetet und anspruchsvolle Bibelarbeiten gehalten. Wir forschten intensiv im Wort Gottes und meinten es ernst mit der Nachfolge. Bei den Silvesterfeiern war das geistliche Programm der Höhepunkt des Abends. Diese Andachten gaben eine klare Ausrichtung für das neue Jahr. Über den Jahreswechsel gab es eine Gebetsgemeinschaft, denn es war uns wichtig, das neue Jahr mit Gott zu beginnen. Das war eine herausfordernde Zeit – damals in den 80er Jahren. Zwanzig Jahre später Zwanzig Jahre später erlebten wir wieder eine Silvesterfeier – am selben Ort, im selben Raum und teilweise sogar mit den gleichen Leuten. Vor dem Abendessen sprach jemand ein kurzes Dankgebet. Nach einer ausgiebigen Essenszeit gab es Spiele an den Tischen und in großer Runde. Kurz vor Mitternacht bekam jeder ein Glas Sekt oder Saft und ging nach draußen auf die Straße. Dort zündeten einige Väter mit ihren Kindern Feuerwerkskörper an. Das ging über eineinviertel Stunden lang. Die beiden vollzeitlichen Prediger gingen zwischendurch ins Gemeinschaftshaus zurück, um auszuspannen. Meine Frau und ich traten gegen 1.30 Uhr den Heimweg an. Zu Hause angekommen waren wir völlig verwirrt. Unser erstes Bedürfnis war, zusammen zu beten und so – wie wir es bisher gewohnt waren – mit unserem Herrn in das neue Jahr zu gehen. Über den Silvesterabend waren wir richtig erschrocken. Bis auf das kurze Tischgebet waren geistliche Programmpunkte Fehlanzeige. Es gab keine Andacht oder sonstigen geistlichen Input und auch keine Gebetsgemeinschaft – es wurde noch nicht einmal die Möglichkeit, zusammen beten zu können, eingeräumt oder angeboten. Eine Woche später hatte ich einen der Prediger am Telefon. Ich schilderte ihm meinen Eindruck, doch er entgegnete mir: „Ist es denn weniger geistlich, wenn wir einfach nur zusammen sind?“ Andere meinten, dass sie die Lockerheit und Freiheit gegenüber früheren Jahren als Fortschritt sehen. Für mich schien es eine Gleichgültigkeit geistlichen Inhalten gegenüber und eher ein Zeichen der Verflachung zu sein.
Kerzen und Dämmerlicht Anhand der sonntäglichen Gottesdienste sollte deutlich werden, ob diese Feier nur ein Ausrutscher war. Die bisherigen Gemeinschaftsstunden am Sonntagnachmittag waren einigen Jüngeren zu langweilig. Man fing an, sich parallel auch am Sonntagmorgen zu treffen, womit kurze Zeit später der Sonntagnachmittag wegfiel. Rein äußerlich war schnell festzustellen, dass sich vieles verändert hatte. Der Gottesdienstraum war abgedunkelt, Kerzen und Dämmerlicht sollten eine spirituelle Atmosphäre erzeugen. Schlagzeug und Hardrock-Gitarre sorgten für „fetzigen“ Lobpreis. Die Kanzel musste einem Stehtisch weichen, an dem sich der Prediger lässig anlehnen konnte. Wie von charismatischen Lobpreiszeiten bekannt, versuchte auch hier die Frau des Predigers die Besucher zu stimulieren: „Und jetzt wollen wir wirklich in die Anbetung gehen!“ Der Schalter wurde sozusagen umgelegt, indem sanfter, melodischer Sound vom Synthesizer erklang. Bildmeditationen per Beamer vermittelten, dass Gott ausschließlich Liebe ist. Die Predigten selbst enthielten durchaus biblische Wahrheiten, aber etwas fehlte doch irgendwie. Begriffe und Themen wie „Sünde“, „Buße“, „Hölle“ und „Gericht“ wurden vermieden, von „Heiligung“ und „Absonderung“ ganz zu schweigen. Vor der Predigt wurde jeweils ein Theater-Anspiel, Sketch oder eine Pantomime aufgeführt. Zwar war ich für meine konservative Haltung bekannt, wurde aber per E-Mail dennoch um mein Mitwirken bei einem Theateranspiel gebeten. Ich erklärte höflich, dass ich kein Freund davon sei und im Gottesdienst lieber Verkündiger statt Schauspieler wäre. Ich wollte dann noch mal kurz persönlich mit der anfragenden Person darüber sprechen. Da sie mir künftig aus dem Weg ging, kam es jedoch nicht dazu. Auf Predigtdienste wurde ich dann schließlich auch nicht mehr angesprochen. „Mini-Erlebtgottesdienst“? Die sonntäglichen Zusammenkünfte nannten sich nun „ERlebt-Gottesdienst“. Die Werbung dazu betonte nicht das Wort, sondern allgemeine Worte: „Erlebt – Musik, Worte, Theater, Gespräche, Snacks und mehr. Erlebt – laut, leise, lustig, nachdenklich, spannend, wertvoll. Erlebt – einfach ein Erlebnis.“ Für den monatlichen Jugendgottesdienst wurde folgendermaßen geworben: „Ein Ort mit cooler Atmosphäre“, „gute Musik“, „knackige Message“ und „hinterher noch Snacks und jede Menge Fun“. Eines Sonntags wurde dann ein besonderer „ERlebt-Brunch-Gottesdienst“ angekündigt. Es gäbe zwar auch eine Predigt (Unmutsäußerungen bei einigen Gottesdienstbesuchern), diese sei aber nur ganz kurz (Erleichterung bei selbigen). Im Programm hieß es: „Sonntagmorgen einmal anders: Wir erleben einen köstlichen Brunch und einen ‚Mini-ERlebtgottesdienst’! Wir beginnen mit einem ausgiebigen Frühstücksbrunch, süß und deftig. Unser anschließender Minigottesdienst besteht aus Liedern, Gebeten und einer Minipredigt. Zum Abschluss stehen warme Speisen am Buffet.“ Spätestens jetzt wurde mir klar, dass ich hier am falschen Platz war. Frustriert und enttäuscht fuhr ich nach Hause. Dort angekommen entlud sich meine Traurigkeit in Tränen. Ich war völlig verzweifelt – zum einen, weil das geistliche Niveau immer mehr abzurutschen drohte und die Einzelnen mitzog und zum anderen, weil die Mitarbeiter nicht gesprächsbereit waren. Sie haben sich eindeutig und unbelehrbar entschieden, mit Marketingmethoden à la Willow- Creek die Gemeinde vor dem Aussterben zu bewahren und durch die oben erwähnten Stilmittel Fremde anzulocken und die Jüngeren bei Laune zu halten. Gehaltvolle Predigten waren einem „Evangelium light“ gewichen, „deftige“ geistliche Kost im wahrsten Sinne des Wortes einer 5-Minuten- Terrine. Das Wort-Christentum musste einem sinnlichen Christentum Platz machen und nach jahrzehntelanger pietistischer Ausrichtung wurde der schwärmerisch-charismatische Weg eingeschlagen. Das Festhalten an den Vorgaben des Wortes Gottes wich einem Pragmatismus, dem nahezu jedes besucherfreundliche Mittel recht war, um bloß das Haus voll zu kriegen. Dank der gnädigen Führung Gottes konnten wir uns einer Brüdergemeinde anschließen, dort unsere Gaben einsetzen und nicht nur durch die Gemeinschaft Gemeinschaft, sondern vor allem durch die bibeltreue Verkündigung echte Glaubensstärkung, Ermutigung und Korrektur bekommen. Spiel, Spaß und Spannung Doch wie ging es in der landeskirchlichen Gemeinschaft weiter? Niemand erkundigte sich bei uns nach dem Grund unseres plötzlichen Fernbleibens. Freundliche E-Mails von mir an zwei mitarbeitende Ehepaare blieben unbeantwortet. Von einem dieser Paare übernahm eine Frau die hauptamtliche Leitung der Kinder- und Jugendarbeit. Im vierseitigen Rundbrief musste ich erneut feststellen, wie sehr sich doch die Zeiten geändert hatten. Man liest viel über Aktionen mit „Spiel, Spaß und Spannung“, einem „stylischen Gottesdienstraum, die Band rockt ab“. Dann kommt es zu einem Einschnitt im Rundbrief: „Natürlich besteht meine Arbeit hier nicht nur aus irgendwelchen Events und Aktionen.“ In der Erwartung auf einen geistlichen Aspekt lese ich weiter: „Gerade persönliche Beziehungen zu den Teens aufzubauen ist mir sehr wichtig.“ Konkret wird das durch „verrückte Sachen machen, wie Krawatten nähen, mit unserem GPS-Gerät Schätze suchen, gemeinsam Kochen, Klettern gehen und und und.“ Mit dem geistlichen Aspekt habe ich also wieder einmal daneben gelegen. Auffallend ist zudem, dass der Name Jesus auf vier DIN A 4-Seiten nur ein einziges Mal vorkommt. EC – oder Emerging Church? Wohin führt die Umformung dieser landeskirchlichen Gemeinschaft? Die Zugehörigkeit zum pietistischen EC (Entschiedenes Christentum) ist Vergangenheit, heute zählt das Vorbild eines anderen „EC“, der Emerging Church. Äußeres Wachstum um jeden Preis hat im Inneren seinen Preis – den geistlichen Niedergang! Ein „Evangelium light“ erzeugt oft Scheinbekehrte, die kaum etwas von Buße, Zerbruch und Heiligung gehört haben. Außerdem geschieht Absonderung nicht von der Welt, sondern von den bibeltreuen Gläubigen. Diese werden als konservative, ewig gestrige Fundamentalisten gebrandmarkt, die als angeblich Gesetzliche und Pharisäer ihren Kritikgeist pflegen. Unbiblische, weltförmige Zielvorgaben haben aber keine Verheißung, zumindest keine positive, denn: „Wer die Welt in die Gemeinde holt, macht die Gemeinde zur Welt!“ Dennoch baut unser Herr seine Gemeinde – auch heute! Diese hat nach wie vor die Verheißung seiner Treue und seiner Gegenwart. Jeder Gläubige trägt aber mit Verantwortung, wie an Gottes Bau gearbeitet wird: „Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr aber seid Gottes Ackerfeld und Gottes Bau. Gemäß der Gnade Gottes, die mir gegeben ist, habe ich als ein weiser Baumeister den Grund gelegt; ein anderer aber baut darauf. Jeder aber gebe Acht, wie er darauf aufbaut.“ (1Kor 3, 9-10)
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